Valeriana Berchicci Residenz Fresh A.I.R.

Valeriana Berchicci

„Architektonische Abstraktionen. Berlin: AA0031 – AA0040“

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Schwarze Linien, die vor grauem Hintergrund von drei Seiten auf einen Punkt fluchten. Zwei spitz zusammenlaufende schwarze Farbflächen auf Grün. Ein Block aus Balken in verschiedenen Graunuancen auf Grau. So könnten die Beschreibungen von drei der zehn abstrakten Gemälde anfangen, die Valeriana Berchicci während ihres Fresh A.I.R. Stipendiums erstellt hat. Die Kompositionen der Farbflächen und Linien, die sie auf quadratische Leinwände gesetzt hat, faszinieren. Blaue und grüne Formen akzentuieren die überwiegend in Schwarz, Weiß und Grautönen gehaltenen Malereien. Bei längerem Betrachten und mit etwas Abstand fangen die abstrakten Gemälde an räumlich zu wirken. Auf einmal erscheinen die Linien wie eine Gebäudeecke. Während man im nächsten Bild meint, brutalistische Architektur zu erkennen. In anderen Bildern trifft der Blick auf eine geometrische Konstruktion, die sich erstmal mit nichts Konkretem in Verbindung bringen lässt.

Valeriana Berchicci – „Architektonische Abstraktionen. Berlin: AA0031 – AA0040“ (2020/21) | Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG

Die Serie von Gemälden ist Teil eines Projektes, das Berchicci als Architektonische Abstraktionen. Berlin: AA0032 – AA0040 betitelt hat. Der Begriff der Architektur stammt vom lateinischen architectura und bezeichnet die Baukunst. Gemeint ist damit nicht nur die handwerkliche Tätigkeit, sondern auch die ästhetische Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum. Der Begriff der Abstraktion lässt sich ebenfalls auf einen lateinischen Ursprung zurückführen: Abstrahere bedeutet ab- oder wegziehen, der daraus entstandene Begriff wird seit dem frühen 20. Jahrhundert verwendet, um nicht-abbildende künstlerische Verfahren zu beschreiben. Er benennt aber auch die Charakterisierung dessen, was als wesentlich angesehen wird. In Berchiccis Projekt geht es um die Effekte, die das städtische Umfeld Berlins auf Menschen hat. Und so könnte man sagen, dass ihre Bilder die wesentlichen Charakteristika der räumlich-ästhetischen Erfahrungen darstellen, die Personen in Berlin machen. Berchicci hat sie anhand eines selbst ausgedachten experimentellen Systems beforscht. Als System bezeichnet sie die von ihr entwickelte künstlerisch-wissenschaftliche Methode, weil sie ihre eigenen persönlichen Erlebnisse und Emotionen bei ihrer Studie weitestgehend außen vor lassen will.

Inspiriert ist ihre interdisziplinär angelegte Untersuchung von Gedanken über das Flanieren bzw. das Spazierengehen. Intellektuelle wie Walter Benjamin und Honoré de Balzac haben vor hundert Jahren über das ziellose Herumschweifen in der Großstadt nachgedacht. Beschrieben haben sie deren Effekte, zum Beispiel inwiefern sie sich als Teil einer Menge fühlten oder wie das bloße Treiben in der Großstadt ihr Denken anregte. Berchicci nahm diese Technik in modifizierter Form auf und transferierte sie in die Gegenwart: Sie bat verschiedene Personen, ohne eine vorgegebene Route durch Berlin zu schlendern und diese Bewegungen mit Video aufzunehmen. Die filmischen Aufnahmen ihrer „Citywalker“ ließ sie sich zusenden. Auf der Basis der so erhaltenen Filme, Bilder und aufgeschriebenen Erfahrungen erhielt die Künstlerin ihre Daten. Das gesammelte Material (die gegangenen Routen, die Gehgeschwindigkeit, die ausgewählten Orte, die aufgenommen Bildausschnitte usw.) wertete sie mithilfe von Karten, Zeichnungen, kleinen Betonskulpturen und Installationen aus. Während dieses Prozesses entstand das Bedürfnis, auch die eigenen Erfahrungen in Berlin filmisch zu materialisieren. Der 30minütige Film The Citywalker besteht aus langsamen Kamerafahrten, die um moderne Wohnarchitektur zirkulieren oder von unten an den Fassaden von mehrgeschossigen Blocks hochblicken lassen. Implementiert sind darauf Schriftinserts wie „All people can become a citywalker“ (Jeder kann ein/e Stadtspaziergänger*in werden). So animiert der Film, selbst als „Citywalker“ durch die Stadt zu streifen, während die Gemälde eher als Segmentierungen der gemachten Wahrnehmungen und des körperlichen Verhaltens im urbanen Raum bezeichnet werden können. Sie bündeln gewisse ästhetische Erfahrungen in einem städtischen Umfeld und übersetzen sie in Abstraktion. Mit diesem Wissen sollte man noch mal auf die Bilder blicken. Was sagen sie nun über das Verhältnis dieser Umgebung zu menschlichen Körpern, zur Wahrnehmung und zum Denken aus? Vielleicht lassen sich die Antworten nicht – oder zumindest nicht so leicht – in Worte fassen.

Text: Kea Wienand



Über Valeriana Berchicci

Valeriana Berchicci, (geb. 1987 in Termoli, Italien) lebt und arbeitet derzeit als Künstlerin und Forscherin in Berlin und Rom. Ihre Forschung ist in der relationalen und konzeptuellen Kunstpraxis verwurzelt und verbunden mit der Theorie der Visual Culture Studies. Angeregt durch die Lehren des Empedokles, agiert die Künstlerin als Vermittlerin zwischen dem Menschen und seiner Wahrnehmungserfahrung. Sie zieht es vor, ihre Arbeiten als Projekte zu bezeichnen, da zur Erforschung des menschlichen Verhaltens verschiedenste künstlerische Methoden angewendet werden.. Für ihre Projekte nutzt sie eine experimentelle Herangehensweise, ein System des Kunstwerks, und arbeitet stets partizipativ unter Anwendung der Reiz-Reaktions-Methode. Zwischen 2013 und heute hat die Künstlerin in mehreren nationalen und internationalen Institutionen ausgestellt, darunter MACRO, MAXXI, die Temple University in Rom, die Akademie der Bildenden Künste Nürnberg, das International Culture Forum 2018 an der Imperial Academy of Arts in St. Petersburg. Sie kollaborierte mit der Akademie der Schönen Künste in Rom und dem Künstler Antoni Muntadas und ist Teil des Expertenteams für das europäische Projekt EU4ART.

Weitere Informationen über die Künstlerin: Website I Facebook I Instagram I Tumblr


Fresh A.I.R. #4 Online-Showcase

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