Verdammter Rechen zurück zur Übersicht | read this article in english In seinem Werk lotet Tanel Rander den Zusammenhang von Sprache, Fremdherrschaft und eigener Identität aus. Videos und Zeichnungen sowie gestaltete Buchcover sind Teil seiner künstlerischen Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Geschichte und der Geschichte Estlands. Mit dem Titel „Verdammter Rechen“ nimmt Rander Bezug auf ein estnisches Volksmärchen. Es handelt von einer jungen Frau, die nach ihrem Studium in Deutschland in die Heimat zurückkehrt und dort einen Gedächtnisverlust erleidet. Die deutsche Sprache ist im baltischen Kontext die Sprache der Fremdherrschaft, der Macht und der kulturellen Einflussnahme. Mit der Gründung von Handelsniederlassungen, mit Kreuzzügen und der Einführung der Leibeigenschaft bereits im Mittelalter, beherrschten Bremer und Kieler Kaufleute und der Deutsche Orden Estland. Auch während der nachfolgenden Fremdherrschaft durch Dänemark, Schweden, Polen und Russland verlor die deutsche Sprache nicht an kultureller Wirkmacht. Mit seinen Erkundungen der Bedeutsamkeit einer Sprache der Herrschaft, die zusätzlich zur Landessprache gewaltsam etabliert wird, knüpft Rander an Frantz Fanons Analysen an. Fanons Grundannahme lautet, dass „Sprechen heißt, absolut für den anderen [zu] existieren“.[1] Die Durchsetzung der Sprache der Kolonisatoren bedeutet für Fanon, „eine Kultur auf sich zu nehmen“.[2] Wer im Besitz der Sprache der Kolonisatoren ist, hat die Macht. Auch in Fanons Schilderungen kehrt ein junger Mann von seinem Studium in Frankreich zurück nach Martinique, auch heute noch ein französisches ‚Überseegebiet‘, und erleidet einen Gedächtnisverlust. Erst als sein Vater ein Küchengerät auf seinen Fuß fallen lässt, kommt die Erinnerung zurück. Seine Expedition zum eigenen Selbst und zu seiner kulturellen Identität unternimmt der Künstler und Kurator aus zwei Richtungen: Rander belegt in Berlin Sprachkurse und begibt sich in Estland auf die Suche nach Deutsch-Lernbüchern aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Seine Recherche ist also geprägt von einer Beobachtung und Reflexion des eigenen Sprechens und gleichzeitig der historischen Bedingungen der Gegenwart. Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG In einer Videoarbeit stellt sich Rander während seiner Rückkehr in seine Heimat Estland dar, nachdem er in Berlin Sprachkurse besucht hat. Als Ergebnis seiner historischen Recherchen präsentiert der Künstler zwei Titelblätter zu fiktiven Büchern. Für beide Cover nutzt Rander Bilder des baltisch-deutschen Künstlers Friedrich Ludwig von Maydell. Ihre Titel lauten: „Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Ehstland“ in Anspielung auf ein Buch des deutschen Autors Heinrich Johann von Jannau aus dem Jahre 1786. Das zweite Buch trägt den Titel „Bärenfiebel“ und referiert auf Deutschlernbücher für Kinder. Den Bären als Figur des kindlichen Lernens, als Figur des Spracherwerbs, findet der Künstler auch in historischen Schulbüchern in Deutschland. Ausgehend von diesen Funden ist die Bärenfigur in den künstlerischen Arbeiten Randers eine hybride Figur in kolonialen Machtverhältnissen. Eine Figur, die die Koexistenz gegensätzlicher Stimmen und konträrer Ideen ermöglicht. Diese in sich gefundene Hybridität setzt der Künstler im Video „Fight Back/Leave it There“ performativ um. Im Boxring und in voller Boxmontur kämpft Rander mit einem Rechen, indem er mit dem Fuß auf das Gerät tritt und den Rechenstiel derart immer wieder zurückschlagen muss. Deutlich wird dabei, dass der Rechen, der stellvertretend für die eigene Geschichte und das kollektive Gedächtnis steht, nur solange ein „verdammter Rechen“ ist, solange er aktiviert wird. Text: Dr. Silke Förschler [1] Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Maske, Frankfurt am Main 1985 (1952), S. 14. [2] Ebd. Photo: Sebastian Kläbsch/berlinARTcore Standbild aus „Verdammter Rechen“, Tanel Rander Standbild aus „Fight back / Leave it there“, Tanel Rander Photo: Sebastian Kläbsch/berlinARTcore Photo: Sebastian Kläbsch/berlinARTcore Photo: Sebastian Kläbsch/berlinARTcore Photo: Sebastian Kläbsch/berlinARTcore Tanel Rander Tanel Rander ist Künstler, Kurator und Kunstschriftsteller aus Estland. Er interessierte sich für die Spannungen zwischen Subjektivität und ihren äußeren Einflüssen. Seit 2010 konzentriert sich seine Arbeit auf die osteuropäische Identität und die Entkolonialisierung. In den letzten Jahren hat er sich für psychische Gesundheit sowie für die therapeutischen und versöhnlichen Qualitäten der Kunst interessiert. Seine letzte Einzelausstellung war „Angelus Novus“ (2022) in der Hobusepea Gallery, Tallinn. Sein neuestes kuratorisches Projekt ist „Goodbye East! Goodbye Narcissus!“ (2023), das sich mit der kollektiven Psyche Osteuropas als narzisstische Konstruktion beschäftigt. Die Ausstellung findet im Museum für zeitgenössische Kunst in Estland (EKKM) statt. Blog: http://chnldr.blogspot.com/