Sonia Sagan

Café Ham-Saayeh // The REAL Tragedy of the Commons

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Einladend wirkt der große Teppich aus Pappkarton, um den herum gehäkelte Kissen im Raum platziert sind. Auf den ersten Blick scheint der Teppich mit Ornamenten bestückt zu sein, bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch vielfältige Motive von Boden und Untergrund. Schuhabdrücke, Fauna, Kopfsteinpflaster und verschiedene Zeichen von Schächten können auf dem Teppich ausgemacht werden. Die Zeichen verweisen auf die unterirdische Infrastruktur Berlins, auf die Netze von Wasser, Gas, Strom und Abwasser. Zudem sind Einflüsse aus der persischen Kultur im Zusammenspiel mit Fragmenten von Memes, politischen Slogans und der digitalen Welt auf der Teppichoberfläche zu erkennen.

Sonia Sagen stellte mit einem selbstgebauten, tragbaren Tischlaser Schablonen und Applikationen aus recycelten Materialien her, deren ausgestanzte Formen dann im zweiten Schritt auf den Teppich geklebt wurden. Derart ist das traditionelle manuelle Verfahren des Teppichknüpfens als Teil eines nomadischen Lebens in ein Verfahren verwandelt, das auf Materialien urbanen Lebens, moderner Logistik und die schnelllebige digitale Aufmerksamkeitsökonomie zurückgreift. Auf den aus upgecycelten Materialien handgefertigten Kissen sitzend, kann der Teppich betrachtet werden.

Kamera: berlinARTcore, Michelle Nimpsch
Schnitt: Michelle Nimpsch

Der Teppich ist Teil der Ergebnisse von Sagans künstlerischen Recherchen. Er steht als Ort des Verweilens und des Austausches stellvertretend für die Rolle, die Kaffeehäuser im Prozess einer gesellschaftlichen Demokratisierung spielten und in Zukunft wieder spielen können. So war das Kaffeehaus Cafe Naderi in Teheran ein Ort, an dem sich die politische und kulturelle Avantgarde in den Jahren vor der islamischen Revolution traf. Im Europa der Aufklärung war das Kaffeehaus ein Raum, der im Sinne Habermas’ zum Strukturwandel der Öffentlichkeit beigetragen hat, an dem geschrieben, gelesen und diskutiert wurde. In Habermas’ Verständnis kann Öffentlichkeit die Funktion haben, Gesellschaft in aufklärerisch-rationaler Weise zu demokratisieren.

Ausgehend von diesen Befunden entwickelte Sagan das multidisziplinäre Kunstprojekt Café Ham-Saayeh, ein Kaffeehaus für die Zukunft und als Teil allgemeiner Bedürfnisse. Hier sollen lokales Essen und Getränke angeboten werden, die Zugänglichkeit zu Raum und Fortbildungsmöglichkeiten für alle gegeben und der Austausch mit Nachbar*innen möglich sein. In den konzipierten Kaffeehäusern, die es in jedem Wohnviertel geben soll und die sich an den lokalen kulturellen Besonderheiten orientieren, sollen ein neues Verständnis des urbanen Lebens ermöglicht und neue politische Vorstellungen ausgetauscht werden. Damit ist das imaginierte Kaffeehaus ein Gegenmodell zu gegenwärtigen, weltweit agierenden Kaffeehausketten. Ihre tiefe lokale Verwurzelung zeigt sich auch im Bezug der Waren: Pflanzen und Pilze werden auf dem Dach angebaut, Müll wird derart vermieden. Der Name des Cafés „Ham Saayeh“ bedeutet auf Farsi „Nachbar“ und in der wörtlichen Übersetzung: „Wir stehen im selben Schatten“. Diese Bedeutung denkt Sagan für die Installation weiter: „Wir stehen im Schatten desselben Unterdrückers“.

Text: Dr. Silke Förschler

Kamera: berlinARTcore, Michelle Nimpsch
Schnitt: Michelle Nimpsch


Sonia Sagan

Sonia Sagan lebt in Stockholm und hat sich der Kunst, dem Prophetentum und der Poesie verschrieben. Sagan arbeitet jenseits der Spezifitäten eines Arbeitsmediums und erschafft vielmehr das gelebte Forschungsprojekt und Gesamtkunstwerk „ATAR Walk With Me“ oder „the ATARi-faith“ (2020-2030). Unter Einsatz raumgreifender Installationen, choreografierter Performances, Klang und Text als erzählerische Elemente, entwirft Sagan Szenarien von sich überschneidenden Krisen, Exzessen und Kollisionskursen, die unseren Zeitgeist durch eine mythologische Linse betrachten. Die Entstehungsgeschichte und die Praktiken des fiktiven „ATARi-Glaubens“ verflechten uralte zoroastrische Quellen mit modernen Online-Diskursen, um ein metaphysisches System für künftige StadtbewohnerInnen zu entwerfen, die durch Prekarität vereint sind.

Instagram: https://www.instagram.com/posthumansmokemachine