Rita Ferreira

Coral

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Was im Archiv abgelegt wird und was in Museen und Sammlungen ausgestellt wird, bestimmt darüber, was Teil unseres kulturellen Gedächtnisses ist. Archive und Sammlungen haben mit ihren Schwerpunkten, ihrer Art und Weise Dinge sichtbar zu machen, immer auch Deutungshoheit darüber, was wir zu unserer kulturellen Identität machen. Rita Ferreira erstellt mit ihrer Arbeit Coral ein alternatives Archiv zu Erfahrungen von Migrant*innen in Berlin. Elf Migrant*innen erzählten Ferreira ihre Geschichte und ihre Erlebnisse in Deutschland, jeweils in ihrer Muttersprache. Die ungeschnittenen Tonaufnahmen können in der Ausstellung Fresh A.I.R. #8 angehört werden. Archiviert sind sie unter dem Vornamen der Sprechenden.

Ein weiterer Teil der Arbeit ist eine alternative Kartografie Berlins, eine Kartografie, die die Erfahrungen und Erlebnisse der Migrant*innen im Stadtraum visuell wiedergibt. Auf einem für alle Besucher*innen zum Mitnehmen bereitgestellten Plan mit elf Feldern notiert Ferreira die Daten und die Bezirke ihrer Begegnungen. Darunter ist jeweils mit einem schwarzen Marker eine abstrakte Form gezeichnet. Diese Form repräsentiert die Orte, die von den Erzählenden als Treffpunkte ausgewählt wurden. Zudem spiegelt die Form wider, wie Ferreira den gemeinsam erkundeten Stadtraum wahrnahm. Trotz ihrer Abstraktion lassen die Linien in ihrer Zusammenschau eine alternative Kartografie erkennen. Der geografische Raum, der häufig mit dem Paradigma der Neutralität dargestellt wird, wird derart um eine psychologische und soziale Skalierung erweitert. Jeweils auf der Rückseite der individuellen Stadtraum-Skalierungen schildert Ferreira ihre Begegnung, ihre Erinnerungen und ihre Gefühle während der gemeinsamen Stadterkundung mit diesen Menschen.

Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG

Ein wiederkehrendes Thema während der Spaziergänge ist die Sprache: wie es ist, Gefühle und Gedanken in der Muttersprache auszudrücken und was die Besonderheiten und Herausforderungen sind, in einer Stadt zu leben, deren Sprache teilweise unverständlich ist, deren Sprache manche Worte und Gefühle nicht ausdrücken können. Ferreira gibt den Teilnehmenden die Freiheit, in der Sprache zu erzählen, in der sie über ihre Erlebnisse in Berlin berichten möchten. Sie unterliegen damit keiner Regulierung, der sie für die Aufzeichnung entsprechen müssen. Deutlich wird, wie Ferreira in der persönlichen Begegnung Raum und Vertrauen schafft. Beides ermöglicht diesen „Fremden“, sich zu öffnen und ihre Geschichte zu erzählen. Vermittelt werden die Aufzeichnungen mit Hilfe eines so persönlichen wie abstrakten Zeichensystems, das den Stadtraum als einen Raum der Begegnung und des Austauschs imaginieren lässt. Damit schafft die Grafikdesignerin sowohl ein alternatives Archiv zu Geschichten der Migration als auch eine alternative Kartografie der Stadt. Ihre Zeit in der „Bülowstraße – Zietenstraße“ setzt die Grafikdesignerin mit den gleichen visuellen Mitteln um. Auf einer Leinwand stellt Ferreira eine ovale Form mit einer kleinen Schlaufe nach innen dar. Mit dem Zitat von R. Murray Schafer „The eye points outward; the ear draws inward” auf der Leinwand werden noch einmal die beiden wesentlichen Aspekte betont, die Ferreira in ihrem alternativen Archiv und ihrer alternativen Kartografie Berlins zusammenführt. In der Zusammenführung beider Archive kann Ferreira Migration vermitteln und erfahrbar machen.

Text: Dr. Silke Förschler


Rita Ferreira

Rita Ferreira ist eine Designerin und Verlegerin aus Portugal. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die redaktionelle Praxis, von der inhaltlichen Bearbeitung bis zur grafischen Konzeption. Neben ihrer redaktionellen Arbeit ist sie Herausgeberin einer unabhängigen Zeitung, „O Bomfim“, die ihr Viertel in Porto dokumentiert, indem sie Geschichten erzählt und die Menschen porträtiert, denen sie in ihrem Alltag begegnet. Ferreira ist auch Aktivistin bei SOS Racismo, einer portugiesischen nichtstaatlichen Organisation, die sich dem Kampf gegen Rassismus verschrieben hat, und kuratiert Filme für das MICAR (International Anti-Racist Cinema Festival).

Instagram: @lindo_navio

Portfolio: http://gigante.com.pt