Regina

Regina Vitányi

Unfolded

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Unsere Auseinandersetzung mit Ursachen von Migration und mit Migrant*innen erfolgt häufig ausschließlich durch mediale Berichterstattung. Um die Lebensrealität von Migrant*innen in Berlin zu verstehen, besuchte Regina Vitányi Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen. Gleichzeitig ging die Graphikdesignerin und Künstlerin der Art und Weise nach, wie seit zwölf Jahren in den öffentlichen Medien Mitteleuropas über Migration berichtet wird, wie Bilder und Geschichte genutzt werden, um bestimmte Medieneffekte zu erzeugen. Generell lassen sich die Ergebnisse ihrer Beobachtungen und Analysen auf die mediale Berichterstattung von politisch umkämpften und sensiblen Themen weltweit übertragen.

Vitányis Leitfragen in ihrer Arbeit waren, was sich in den letzten Jahren in den Medien verändert hat und wie die in den negativen Meldungen über Migration genutzten Mechanismen und Instrumente funktionieren. Allgemein ist festzustellen, dass Migration und Krise häufig in einem Atemzug genannt werden, um Migration in ein ausschließlich problematisches Licht zu rücken. Das Ergebnis ihrer Recherchen und Analysen stellte Vitányi in einem Booklet zusammen, das den Titel Unfolded trägt und für die Besucher*innen der Ausstellung für das Studium zu Hause zur Verfügung steht. Ein Papierstreifen umschließt das Büchlein. Zudem sind die Ecken ausfaltbar, sodass es wie ein Zelt aufgestellt werden kann. Ist das Band abgestreift, lässt sich das Booklet entfalten.

Zu Beginn verweist die Künstlerin auf Zoltán Kékesis Recherchen zu Antisemitismus, beispielsweise in dem Text Icons in Exile. The Travels of an Anti-Semitic Image-Cult.[1] Kékesi hat aufgearbeitet, wie das Verschwinden eines ungarischen Bauernmädchens namens Eszter Sólymosi im Frühjahr 1882 zur Ermordung von heimischen und eingewanderten Juden führte. Mit Hilfe eines im Stil von Kostümdarstellungen gemalten Portraits des Mädchens erlangte ihr Fall auf dem Internationalen Antijüdischen Kongress von 1882 in Dresden eine große Aufmerksamkeit. Zur Enthüllung des Gemäldes hielt ein Abgeordneter des ungarischen Parlaments eine emotionalisierende Rede, die das Leid des Mädchens während ihrer Tötung durch einen jüdischen Mörder drastisch vor Augen stellen sollte. Vitányi listet die Instrumentalisierungen des Falls im Zeitraum von 1933 bis heute auf und leitet derart zu ihren Analysen von Mechanismen der gezielten Verbreitung von falschen Informationen weiter. Anhand einzelner Begriffe wie Distraction, Blurring und Pigeonholing erläutert die Künstlerin Vorgehensweisen der Desinformation. In sogenannten Echokammern kommt es beispielsweise zu Verstärkungen von Meinungen.

Durch die Wiederholung der immer gleichen Überzeugungen innerhalb eines geschlossenen Systems werden sie verstärkt, sodass sie irgendwann kaum noch widerlegt werden können. Ein weiterer Mechanismus sind provozierende Nachrichten, die Nutzer*innen empören und zu Reaktionen herausfordern, Trolling genannt. Auch Memes werden häufig zur Verbreitung von stimmungsmachenden Meinungen genutzt. Mit Montagen einzelner Bildelemente oder Text-Bild Kombination werden Ansichten in Umlauf gebracht, die Interpretationen von Geschehnissen transportieren. Mit ihrem Booklet möchte Vitányi informieren und zur eigenen Analyse befähigen. Da es bei der medialen Berichterstattung über Migration häufig um das Erzeugen von Emotionen geht, verzichtete die Graphikdesignerin auf das Evozieren emotionaler Reaktionen. Sie entwickelte eine eigene visuelle Sprache mit Typographien aus dem globalen Süden, die eine Form der Anerkennung schaffen. In der Ausstellung bearbeitete Vitányi eine MDF-Platte mit unterschiedlichen Materialien, die stellvertretend für die herausgearbeiteten Analysebegriffe stehen und in einem erläuternden Material-Lexikon einander zugeordnet werden. So vertreten beispielsweise Buchstabennudeln Trolling, Wachs steht für Blurring und Staub für Erinnerungspolitik. Als künstlerische Auseinandersetzung mit den wirkmächtigen medialen Beeinflussungen entfernt Vitányi, die Materialien von der Platte, sodass sie wie Bauschutt auf dem Boden liegen und auf ihre Entsorgung warten. So wird deutlich, dass bis jetzt kein umfassender und nachhaltiger Umgang mit den Mechanismen medialer Beeinflussung gefunden wurde. Im Raum steht die Frage bis zu welchem Grad die Instrumentalisierungen medialer Effekte begrenzt und zum Verschwinden gebracht werden können.


[1] Zoltán Kékesi: Icons in Exile. The Travels of an Anti-Semitic Image-Cult, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 25, hrsg. v. Stefanie Schüler-Springorum, Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin (2016), S. 154-169.




Text: Dr. Silke Förschler


Regina Vitányi

Regina Vitányi ist eine Grafikdesignerin und Grafikerin aus Ungarn, die ständig die Grenzen zwischen ihren beiden Fachgebieten herausfordert. Sie experimentiert mit einzigartigen Druckverfahren und schafft zeit- und bewegungsbasierte Druckerzeugnisse, die mit den Betrachter*innen interagieren. In den letzten Jahren konzentrierte sie sich auf experimentelles Buchdesign und erhielt Auszeichnungen von ArtHungy und UBDYA. Sie studierte an der METU Budapest und der ASP Wrocław und ließ sich während ihres MA-Studiums zur Plakatgestaltung inspirieren. Sie kuratiert und beteiligt sich an Plakatausstellungen in ganz Europa.

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Website: https://www.reginavitanyi.com/