Poppy French Kunstwerk

Poppy French

„The Anatomy of Space” (2020/2021)

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Hat eine U-Bahn-Station einen eigenen Rhythmus? Folgen die Bewegungen von Personen, die den Berliner Nahverkehr nutzen, einer Choreographie? Und welche Beziehungen entstehen eigentlich zwischen den Architekturen dieser Bahnhöfe, ihren Zeichensystemen sowie denjenigen, die diese Orte frequentieren? Das Projekt, das die britische Künstlerin Poppy French während ihres Fresh A.I.R.-Stipendiums entwickelt hat, könnte diese Fragen beantworten.

Poppy French – „The anatomy of space“ (2020/21) | Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG

Frenchs künstlerische Praxis ist keine, die ausschließlich in der Abgeschiedenheit eines Ateliers entsteht. Wie eine Ethnologin streift die Künstlerin durch die Großstadt und befasst sich mit konkreten Räumen und den Personen, die diese beleben. Techniken wie Zeichnen, Fotografieren usw. verwendet sie, um urbane Orte zu beforschen und ihre Charakteristika sichtbar zu machen. Ihr Interesse gilt dabei nicht nur den geometrischen Formen der Gebäude und sie fokussiert auch nicht bloß das Bewegungsprofil der Fahrgäste. French sucht vielmehr nach wahrnehmbaren Mustern und den relationalen Verhältnissen, die sich zwischen Gebäuden, den dort vorhandenen Zeichen und den Nutzer*innen ergeben. Sie analysiert den jeweiligen Raum als ein Geflecht aus unterschiedlichen Elementen.

In Berlin hat sie U-Bahn-Stationen als Forschungsobjekt gewählt. U-Bahn-Stationen sind ganz offensichtlich Funktionsorte. An ihnen verweilt man nicht, sondern sie werden temporär genutzt, um von dort woandershin zu gelangen. Damit gehören sie zu den sogenannten Durchgangs- oder Transitorten. Der französische Anthropologe Marc Augé hat solche Orte als sogenannte Nicht-Orte bezeichnet und Überlegungen angestoßen, wie man diese analysieren könnte.* French hat seine Gedanken studiert und mit ihrer Kunst weitergetrieben. Abgezeichnet hat sie nun die Grundrisse von sämtlichen Berliner U-Bahn-Stationen, die ausgewiesenen Wege und Treppenaufgänge sowie die Bewegungen der Fahrgäste.

In einem Film hat French ihre Zeichnungen mit Fotografien von gekachelten Bahnhofswänden, von Hinweis- und Ortsschildern sowie mit Schnappschüssen von eilig davonschreitenden Beinen zusammengebracht. Aus ihren künstlerischen Notizen hat sie so eine wilde filmische Collage geschaffen, deren Elemente sich bewegen, überlagern und abwechseln. Als Sound ist ein Gemenge aus den bekannten Berliner U-Bahngeräuschen und Tönen, die wie Herzschlagen klingen, zu hören. Wenn im Video die schematisierten Zeichnungen der Stationen mit Fotografien von Kachelwänden ausgefüllt sind oder die mit Pfeilen nachgezeichneten Gehwege sich in die Fotografien von laufenden Beinen einschreiben, rücken Ordnungen und vorgegebene Strukturen in den Blick. Dann erhalten die sauber verfugten Kacheln der Bahnhofswände eine seltsame Ähnlichkeit zu den eckigen Silhouetten der Gebäude. Und die Richtungsweiser der Schilder ähneln denen der eingezeichneten Laufwege. Alles ist darauf ausgerichtet, Personen zu bewegen und in Bewegung zu halten – die Pfeile, die glatten Wände, die an mehreren Seiten offenen Stationsgebäude. Selbst illegal angebrachte Sticker scheinen die offiziellen Symbole zu imitieren und damit im Rhythmus zu bleiben. Dieser Rhythmus ist schnell, ordentlich, meist linear, nicht immer geradlinig und nur manchmal – eher selten – von Durchquerungen durchzogen.

French nennt ihr Projekt Anatomy of Space (Anatomie des Raumes) und bezieht sich auf die gängige Metaphorisierung des urbanen Raumes mit körperlichen Metaphern. Die U-Bahn-Stationen sind dementsprechend als Organismen zu verstehen. French hat nicht nur ihren Puls gemessen, die Strömungssysteme nachvollzogen und den Körperbau rekonstruiert. Ihr Projekt lässt auch über die Passagiere nachdenken: Sie scheinen rastlos, gegängelt, immer mit einem Ziel ausgestattet und vereinzelt, aber irgendwie auch alle gleich. So erweist sich die U-Bahn-Station sicher nicht als Sehnsuchtsort, bleibt darin aber merkwürdig vertraut. Vielleicht ist es genau diese Paradoxie, die – laut Frenchs anatomischer Analyse – den U-Bahnhof als Nicht-Ort ausmacht.

* Marc Augé: Nicht-Orte. München 2010. [Orig. Non-Lieux. Paris 1991.]

Text: Kea Wienand



Abschlussfilm zum Projekt „The anatomy of space“ (Die Anatomie des Raumes) (2020/21) | Video: Poppy French

Über Poppy French

Die Filmemacherin Poppy French ist in London, England, geboren und aufgewachsen. Während ihres Bachelors in Illustration hat sie den Film als Forschungswerkzeug für sich entdeckt, um ihr Verständnis von Aktion, Rhythmus und Raum zu erweitern. In ihren Arbeiten verfolgt sie einen investigativen Ansatz und verwendet schematische Zeichnungen, Fotografien und Scans, um ihre Beobachtungen zu verbildlichen und das Wesen eines Ortes einzufangen.

Weitere Informationen über die Künstlerin: InstagramVimeo Flickr


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