META-colectivo Residenz Fresh A.I.R

META-colectivo

“Collective Matters” (2020/2021)

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Wie würde Kunst aussehen, die ernsthaft auf die Probleme der Klimakrise reagiert? Kunst, die nicht ‚nur‘ davor warnt, dass die Ausbeutung der vorhandenen Ressourcen verheerende Auswirkungen hat? Kunst, die nicht ‚nur‘ an die Einzelnen appelliert, ihr Konsumverhalten zu ändern? Das Projekt Collective Matters des Künstlerkollektivs META-colectivo liefert auf die Frage weitreichende Antworten. Während des Fresh A.I.R.-Stipendiums entwickelten sie eine Methode, mit der aus Abfallprodukten lokaler Unternehmen ästhetische Objekte entstanden. Dabei ging es nicht nur darum, ein weiteres Rezept für das aktuell in Mode gekommene Upcycling zu schreiben. Vielmehr verfolgt ihre künstlerische Praxis ein Konzept, das mit tradierten Vorstellungen und Denkformen (auch über Kunst) bricht und andere Wege ausprobiert, die für eine klimafreundliche Zukunft modellhaft sein könnten.

META-colectivo – „Collective matters – from organic waste to living sculptures“ (Von organischem Abfall zu lebenden Skulpturen) (2020/21) | Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG

In der europäischen Kunstgeschichte wurden Werke lange Zeit nur auf ein menschliches (meist männliches) Subjekt zurückgeführt. Mit der Benennung von Kollektiven wurde diese Zentrierung bereits aufgeweicht. META-colectivo besteht allerdings nicht nur aus Adriana Tamargo und Guillermo Escribano sowie diversen menschlichen Kooperationspartnern, sondern auch aus nicht-humanen Agenten, wie z.B. Bakterien, Pilzen oder Schimmelsporen. Die Zusammenarbeit entspricht einer philosophischen Position, die angesichts der Klimakatastrophe für ein verantwortliches Miteinander aller Lebewesen plädiert. Aufgegeben wird dabei die Vorstellung, der Mensch sei der Mittelpunkt der Welt und könnte die Natur beherrschen. META-colectivo nimmt dagegen die Aussage der Philosophin Donna Haraway auf, Sym-poiesis sei notwendig. Laut Haraway bedeutet Sym-poiesis schlicht mitmachen.* Dementsprechend fragte sich das Künstlerkollektiv, was sie tun könnten, um etwas mit und für ihre Umwelt zu machen, etwas das verantwortlich mit dieser umgeht.

Für ihr Projekt sammelten sie organische Abfälle aus ihrer direkten Umgebung in Berlin-Schöneberg: Kaffeesatz erhielten sie von Cafés, Treber bzw. die bei der Bierherstellung anfallenden Malzrückstände von Brauereien, abgeschnittene Haare von Friseurläden, Herbstlaub von der Straße usw. Danach experimentierten sie mit diesen Stoffen und verschiedenen ökologischen Bindemitteln wie Agar-Agar und pflanzlichem Glycerin. Zusammen mit Bakterien, Schimmelsporen, Regen, Sonne usw. kreierten sie ein formbares Material. Aus diesem entstanden Plastiken, die in ihrer Form inspiriert sind von Organismen wie Protozoen (Urtierchen), Paramecien (Pantoffeltierchen) oder von geologischen Phänomenen wie Felsbrocken oder Gebirgsformationen. Der Prozess des Modellierens wurde wiederum von sämtlichen Faktoren bestimmt. Letztlich sind die so konstruierten Plastiken weder in der Form noch in ihrer Herstellung als entweder menschlich oder natürlich zu beschreiben. Ein solcher Dualismus existiert hier nicht mehr. Es ist ‚etwas‘ dazwischen und es ist zusammen – eben ‚meta‘ und kollektiv. Auch die Zeitlichkeit der Objekte ist nicht allein durch Menschen bestimmt. Im Außenraum ausgestellt und den Wettereinflüssen ausgesetzt, werden sie vergehen und wieder Teil des Ökosystems werden. Als solche sind sie biologisch abbaubar und bleiben flüchtig.

So lässt sich resümieren, dass das Projekt Collective Matters die Bedeutung des verwendeten Materials ernst nimmt. Es beachtet sowohl die stoffliche Seite, seine Zusammensetzung und die der Herstellung. Es beachtet aber auch die Seite des Umgangs mit diesem, die Lesbarkeit und ästhetische Attraktivität. Genau damit ist ihre Kunst schlauer als solche, die zwar auf die verheerenden Effekte, z.B. von Treibhausgasen durch Müllverbrennung, aufmerksam macht, aber dafür selbst um die halbe Welt fliegt und am Ende nicht-organische Abfälle hinterlässt. META-colectivo zeigt dagegen, dass für einen verantwortlichen Umgang mit der Umwelt nicht nur Annahmen aufgegeben werden müssen, sondern auch neue Optionen der Zusammenarbeit entstehen. Das stimmt auch optimistisch.

*Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt a.M./New York: Campus 2018.

Text: Kea Wienand



„Paramecium capulus bloom“ zeigt die Metamorphose der organischen Skulpturen „Flying Slugs“ (Flugschnecken) – ihre Erschaffung und Veränderung im Kontakt mit den biotischen und abiotischen Faktoren der Studioumgebung (2021) | Video: META-colectivo

Über META-colectivo

Adriana Tamargo und Guillermo Escribano sind Teil des META-colectivo, einem Künstlerduo aus Donostia (Baskenland, Spanien), das sich der Visualisierung möglicher Zukunftsszenarien und alternativer Realitäten widmet. Durch die Kombination von Guillermos Hintergrund in Architektur und bildender Kunst und Adrianas in Bio-Design, agieren sie zusammen im Interesse einer nicht-anthropozentrischen Weltanschauung und materieller Praktiken, die unsere Abhängigkeit von anderen lebenden Organismen zeigen, mit denen und dank derer wir (ko)existieren.

Weitere Informationen über das Künstlerduo: Website I Instagram


Fresh A.I.R. #4 Online-Showcase

Fresh A.I.R. Jahrgang vier Logo

Der Online-Showcase bietet die Möglichkeit, Einblick in die unterschiedlichen, in den verwendeten Medien und entworfenen Ästhetiken extrem vielfältigen Projekte der Künstler*innen des vierten Fresh A.I.R.-Jahrgangs zu nehmen.

Zu sehen sind Video- und Bildmaterialien zu den einzelnen Projekten, denen jeweils ein erläuternder Text beigefügt ist, der die ästhetische Erfahrung zu vermitteln sucht.

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