Maria Pichel

L(ea)ving home, Leporello „ein Umzug nach Berlin“ Mural, Ungedeckt

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Was bedeutet es, ein Zuhause zu haben? Welche Rolle spielt die Umgebung dabei, eine neue Heimat zu finden? Und kann eine bestimmte Umgebung das Gefühl, angekommen zu sein, erleichtern? Für ihre künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Fragen suchte Maria Pichel über Social Media Interviewpartner*innen, die Berlin als neuen Lebensmittelpunkt gewählt haben und Interesse hatten, mit ihr über ihre Erfahrungen, Gefühle und Geschichte zu sprechen. Über die Veränderungen, insbesondere des Alltags und der Lebensrealität, die auftauchen, sobald man sich, gewollt oder ungewollt, an einem neuen Ort, in einem neuen Land befindet und versucht, hier seßhaft zu werden.

Pichel interviewte in Berlin Menschen aus Südamerika, Südafrika, Spanien, Portugal, der Türkei und aus Großbritannien, um über ihre veränderten Beziehungen, Routinen und Rituale in ihrer neuen Heimat zu sprechen. Berlin ist in den Gesprächen ein Ort zum Leben, da hier vieles vergleichsweise bezahlbar ist. Derart ist Berlin ein Ort, um Dinge auszuprobieren. Er bietet Möglichkeiten, Kunst zu machen und dabei nicht permanent über existentielle Bedingungen nachdenken zu müssen. Aus den wiederkehrenden Motiven der teilweise bis zu vierstündigen Gespräche schuf sie ein Storyboard.

Für die Präsentation der so entstandenen fiktiven Geschichte erstellte sie ein Leporello. Mit Gouache und Öl-Farbstiften zeichnete die Grafikerin Darstellungen der Großstadt im Winter aus der Perspektive von Neu-Berliner*innen in das ziehharmonikaartige Faltbuch. Leere und Dunkelheit bestimmen die Straßenzüge, die kahlen Äste stehen für die im Winter in sich gekehrten Berliner*innen und deren Mangel an Spontanität und Lebensfreude. Berlintypische Eindrücke wie die mal oberirdisch, mal unterirdisch verlaufende U-Bahn, die oberirdisch geführten pinken Rohre für das Grundwasser und abgestellte Objekte wie Fernsehgeräte und Möbel bilden die Stadtkulisse für die Gefühle der Ankommenden. Aussagen ihrer Interviewpartner*innen stehen handschriftlich auf weißen rechteckigen Flächen und sind an unterschiedlichen Stellen Teil der Zeichnungen. Häufig ermöglicht das Text-Bild Verhältnis einen Assoziationsraum, Stadtraum und Gefühle der Interviewten verknüpfen sich derart auf vielfältige Weise. Den Beginn der Bilderzählung machen fliegende Vögel. Nicht leicht zu lokalisierende Ansichten von Dächern, Kaminen und vom Himmel über der Stadt spiegeln das von den Ankommenden als grundlegend beschriebene mühsame Gefühl, in Berlin einen Ort zu finden, wo man sich zugehörig fühlen kann.

Diese mangelnde Zugehörigkeit sowohl in der neuen Heimat als auch in der alten, führt zum omnipräsenten Befinden, sich an keinem Ort zu Hause fühlen können. Thematisiert wird von den Interviewten auch der Schmerz, Familienmitglieder alleine zurückgelassen zu haben und sie seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen zu haben. Diese existenziellen Aussagen verbindet Pichel mit gezeichneten Szenen in einer Berliner Kneipe. Einerseits ein Ort, der einen intensiven Austausch ermöglicht, andererseits jedoch auch anonym ist und lediglich flüchtige Begegnungen zulässt. So strahlen auch die dunklen und nassen Straßenansichten, der abgestellte Sperrmüll, überquellende Altglascontainer eine besondere Tristesse aus und bilden einen Kontrast zu dem vergleichsweise wohlhabenden Lebensstandard in Berlin. Ansichten von Besucher*innen eines Wochenmarkts verbindet die Graphikerin mit den Aussagen einer interviewten Person, keine gute Zeit in Berlin zu haben, da sie schon länger arbeitslos sei, jedoch gleichzeitig auch froh ist, in der Stadt so viele Freundschaften zu haben, die ihr sogar das Gefühl von Heimat geben können. Schwer sei es jedoch, ausschließlich Menschen ähnlichen Alters zu kennen, älteren Menschen kaum zu begegnen und aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse in eine Identitätskriese gestürzt zu sein. Diese Anonymität führt jedoch auch zu einem großen Freiheitsgefühl, generell sind sich die Interviewten einig, wie sicher und unbehelligt der Alltag in Berlin ist. Damit einher geht das Gefühl, Raum zu haben und Individualität entwickeln zu können. Als schönste Jahreszeit in Berlin wird der Wandel vom Winter zum Frühling beschrieben, denn dieser Wandel sei nicht nur in der Natur auszumachen, sondern auch im Verhalten der Bewohner*innen.

Eine weitere Arbeit Pichels ist ein Mural im Ausstellungsraum. Es zeigt die Großstadt mit kahlen Bäumen und mit einsamen, warm eingepackten Passant*innen. Die gezeichneten Szenen in Verbindung mit dem geschilderten Befinden der Interviewten geben in ihrer Detailliertheit einen präzisen Überblick darüber, was es bedeutet, in Berlin seine Heimat zu suchen. Mit einem soziologischen Blick für Stadt und Menschen vermittelt die Arbeit Grundstrukturen migrantischen Lebens.

Text: Dr. Silke Förschler



About Maria Pichel Llaquet

Die Soziologin Maria Pichel begann ihre künstlerische Karriere in dem Feld der Illustration im Jahr 2013 (Workshops und Kurse in Barcelona). Gemäß ihres soziologischen Hintergrunds konzentriert sie sich auf soziale Themen (wie Feminismus, geschlechtsspezifische Gewalt, Umweltschutz, Sexarbeit und unterbezahlte Hausangestellte) und deren Übersetzung in künstlerisch-graphische Sprachen. Ihre bevorzugten Techniken der bildenden Kunst sind Gouache, Tinte oder Farbmalerei, die Pichel auch mit Druckgrafik und digitaler Kunst kombiniert.

website: mariapichel.com
instagram: instagram.com/mariapichelart