Jukai

Jukai

„Genius Loci“, 2020

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In der römischen Mythologie bezeichnete der „Genius Loci“ den Schutzgeist von Orten. Heute werden mit dem Terminus zumeist die atmosphärischen Eigenschaften von Gebäuden und Räumen benannt. Das Mailänder Künstler*innenduo Jukai suchte während ihres Fresh A.I.R.-Stipendiums der Stiftung Berliner Leben unter dieser Metapher Plätze in Berlin auf, die in der offiziellen Stadtplanung zwar marginal sind, denen aber ein ganz besonderer Geist innewohnt: Plätze, die entweder verlassen und vergessen sind, oder von den Bewohner*innen in einer Weise genutzt werden, die ihrem eigentlich geplanten Gebrauch widerspricht. Ausgangspunkt dieser künstlerischen Form der Stadtethnologie ist die Annahme, dass Städtebau und –planung selten an denen orientiert sind, die diese Städte bewohnen. Zugleich gehen Jukai aber auch davon aus, dass urbane Architektur und Städteordnungen das Leben nie gänzlich dominieren und kontrollieren können. Vielmehr spüren sie Orte auf, deren Besonderheit darin besteht, dass sie als Zwischenräume in der Stadt fungieren. Als Zwischenräume, die neue und ungeplante Möglichkeiten eröffnen oder zumindest denkbar machen.

Einen solchen sprichwörtlichen – wenn auch winzigen – Zwischenraum fand das Künstler*innenduo am Paul-Lincke-Ufer in einem kleinen Riss in einem der Steinquader der Brüstung des Landwehrkanals. In diesen Riss setzten sie eine Holzplatte ein, auf der sie wiederum eine kleine Kurbel anbrachten, die – wenn man sie dreht – eine versteckte Spieluhr ertönen lässt. Zu hören ist „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft…“. Das 1904 von dem Namensgeber der Straße im Metrum eines Marsches komponierte Lied hat sich unlängst als inoffizielle Hymne der neuen alten Hauptstadt etabliert. Der Text lobt natürlich nicht die vor hundert Jahren schon beeinträchtigte olfaktorische Qualität der Stadt, sondern ihre Unterhaltungskultur und hebt vor allem auch die berüchtigte Widerständigkeit ihrer Bewohner*innen hervor. Derart lenkt die Arbeit mit dem Titel „Berliner Luft“ die Aufmerksamkeit auf die vielen kleinen Alltagspraxen, mit denen die Berliner*innen Berlin dazu machen, was es letztlich ist.

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Um einen von den Aktivitäten ihrer Bewohner*innen hervorgebrachten und definierten Ort geht es auch in der Arbeit „Rote Insel“. Der Titel zitiert die inoffizielle Bezeichnung eines Stadtteils in Berlin-Schöneberg, der von drei Bahnlinien eingegrenzt wird und seit dem Beginn der Industrialisierung als sozialistisch geprägter, politisch linker Stadtbezirk gilt. Während einige Bewohner*innen versuchen diese politische Geschichte in Erinnerung zu halten und deren Intentionen weiter zu verfolgen, tradieren sich zugleich auch die Immobiliengewinne, die schon in der Gründerzeit hier zu erzielen waren. So droht die fortwirkende Geschichte vergessen zu werden. Jukai stellten daher fünf rechteckige ca. 60 cm hohe Stelen aus Beton, auf denen mit roten Lettern „Rote Insel 2020“ zu lesen ist, an fünf Eingängen zu dieser Insel auf. Mittels Sprache, Farbe und Material – Beton gilt als das urbane Material schlechthin – markieren sie die politische Bedeutung des Ortes, kartographieren diesen neu und machen ihn mit extra produzierten Postkarten sicht- und erinnerbar.

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Einen weiteren besonderen Ort fanden Jukai am Spreeufer, in Nähe der Köpenicker Straße. Der genius loci dieses Platzes besteht darin, dass er zwar marginal ist und direkt an neue Bebauungen grenzt, aber auch verlassene Gärten und Häuser sowie ein alternatives Wohn- und Kulturprojekt (das Teepeeland) umfasst. Wie ein „Sonar“ (so der Titel) spürten sie auch hier in Interviews mit Bewohner*innen und in Spaziergängen dem Geist dieser Gegend nach. Auf einem Bootshaus, einem ehemaligen massiven Bootsbunker, der allen Veränderungen trotzt, verbildlichten sie die Stimmen und Energien, die sie hier wahrnehmen konnten, in Form einer Plastik. Aus Holzlatten schufen sie eine abstrakte Figur, die sich filigran, aber kraftvoll auftürmt und über das Geländer in den Fluss zu münden scheint. Auch hier versuchen sie das Spezifische dieses Ortes sichtbar zu machen sowie die Aktivitäten und Interaktionen, die ihn ausmachen, zu visualisieren. Und vielleicht – so lässt sich hoffen – können sie damit auch den Schutzgeist anrufen, der doch laut antikem Glauben solchen Orten innewohnt.

Text: Dr. Kea Wienand


Über Jukai

Marta Fumagalli und Riccardo Pirovano sind ein italienisches Künstler-Duo, dass seit 2011 unter dem Namen Jukai zusammenarbeitet. Ihre Forschung nimmt Stadtlandschaften in den Blick, wo sie verlassene Orte aufspüren, die als mögliche „Orte der Erinnerung“ relevant sein könnten. Von Europa über Japan bis nach Afrika hat das Duo bereits temporäre und permanente, „organische“ Installationen mit ortsspezifischem Bezug geschaffen, die aus der Beobachtung und der Interaktion mit diesen Orten hervorgingen.

Weitere Informationen über die Künstler unter:

Website / Facebook / Instagram


Der Online-Showcase von Fresh A.I.R. #3

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Der Online-Showcase bietet die Möglichkeit, Einblick in die unterschiedlichen, in den verwendeten Medien und entworfenen Ästhetiken extrem vielfältigen Projekte der Künstler*innen des dritten Fresh A.I.R.-Jahrgangs zu nehmen. 

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