Ilona Stutz

Euch kriegen wir auch noch, ihr Körnerfresser!

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Nicht nur Argumente, sondern auch Zwischenrufe machen eine parlamentarische Debatte aus. Zwischenrufe sind parlamentarische Praxis und somit Teil der demokratischen Willensbildung.

In ihrer audiovisuellen Arbeit setzt sich Ilona Stutz anhand der stenografischen Aufzeichnungen der 193. Bundestagssitzung 2020 mit den dort getätigten Zwischenrufen auseinander. Protokolliert werden sowohl getätigte Zwischenrufe als auch andere Zwischensignale wie Gelächter, Beifall oder Unruhe. Das Thema der aktuellen Stunde, die damals auf Verlangen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD einberufen wurde, lautete: „Bedrängung von Abgeordneten verurteilen – Die parlamentarische Demokratie schützen.“ Aufgrund von Vorfällen rund um die Abstimmung zur Anpassung des Infektionsschutzgesetzes wurde Abgeordneten der AfD-Fraktion von Abgeordneten der anderen Fraktionen vorgeworfen, parlamentarische Abläufe zu blockieren und damit die Demokratie in Deutschland zu behindern und zu gefährden. Die Sitzung wurde zu einer Abrechnung mit der AfD: mit einer kleinen Fraktion im Bundestag, die, so der Vorwurf, jedoch betont und in großem Umfang die Arbeitsprozesse im parlamentarischen Alltag stört und Abgeordnete anderer Fraktionen bedrängt.

Mithilfe farbiger Punkte ist das Abstimmungsergebnis über die Maßnahmen zum Infektionsschutz an der Wand im Ausstellungsraum repräsentiert. Die grünen Punkte stehen für ja, rot für nein und grau für ungültig oder für eine Enthaltung. So entsteht in der Arbeit ein Kontrast zwischen der geordneten und recht einheitlich wirkenden visuellen Repräsentation der Abstimmung und den über Kopfhörer zu verfolgenden emotional aufgeladenen Zwischenrufen.
Der Titel der Arbeit „Euch kriegen wir auch noch, ihr Körnerfresser!“ findet sich im Sitzungsprotokoll, jedoch wurde diese Aussage nicht als Zwischenruf getätigt, sondern von einer SPD-Abgeordneten als Beispiel für den verbalen Umgang seitens der AfD-Mitarbeiter*innen genannt. Ein AfD-Mitarbeiter habe diesen Satz gegenüber einer Person geäußert, die in der Kantine ein vegetarisches Gericht bestellte.

In der künstlerischen Audioarbeit gehen die Zwischenrufe wild durcheinander, wobei eine weibliche Stimme dem Hörstück Struktur und Ordnung gibt, indem sie bestimmte Aussagen mit einer ruhigen und getragenen Stimme wiederholt, wie beispielsweise den Zwischenruf „Das ist Parlamentarismus!“. Ohne ihren beißenden Ton wirken die Zwischenrufe wie ein Kommentar ihrer selbst. Die politischen Rufe „Ich lass mich hier nicht als Nazi beschimpfen, Herr Präsident“ und „Das sind faschistoide Züge“ sowie „Rechtsextremisten“ zeigen, dass Demokratie in Deutschland um deutliche Abgrenzung zur nationalsozialistischen Diktatur bemüht verhandelt wird. Aussagen wie „Ich kotze gleich“, „Mir kommen die Tränen“ oder „Blödsinn“ und „Das ist Unsinn“ sind hingegen unpolitisch und schlicht der Ausdruck menschlicher Affekte. In seiner linguistischen Analyse definiert Armin Burkhardt den Zwischenruf „Zwischen Monolog und Dialog“. Zwischenrufe sind eine inoffizielle parlamentarische Sprachform. Mit der Isolation der Zwischenrufe macht Stutz die Anknüpfungspunkte an die Rede unsichtbar. Derart stehen die Rückmeldungen, die Reaktionsformen, für sich: Die Inhalte der gehaltenen Reden zum Sitzungsthema sind der Imagination der Zuhörenden überlassen. Indem Stutz die Zwischenrufe seziert, lenkt sie den Fokus auf die Kultur der parlamentarischen Debatte.

Text: Dr. Silke Förschler


Ilona Stutz

Ilona Stutz ist eine Schweizer Künstlerin, die in Bern und Zürich lebt. Nach ihrem Studium der Philosophie und Mathematik arbeitete sie eine Zeit lang in einem technologieorientierten Umfeld, bevor sie sich der Kunst zuwandte. Ilona interessiert sich für die Beziehung zwischen Individuen und den Strukturen, in die sie eingebunden sind und die ihnen ihrerseits innewohnen. Um solche Beziehungen in einer räumlichen Umgebung sicht- und fühlbar zu machen, arbeitet sie mit verschiedenen Medien, insbesondere auch sprachlich.

Instagram: @ylon_pi