Guilia Berra Kunstwerk

Giulia Berra

„Natural Topography“ (2021)

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Von Kunst wird immer wieder behauptet, sie könnte für die Gesellschaft Lösungen anbieten. Auch während der Corona-Pandemie 2020/21 hieß es, Kunst könnte heilen, trösten und Menschen über Grenzen hinweg verbinden. Doch so verführerisch diese Versprechen auch sind, so sehr erweisen sie sich oft als leere Phrasen. Da ist es erholsam, wenn Künstler*innen erst gar nicht mit großen Gesten und schwülstigen Reden daherkommen. So, wie die italienische Künstlerin Giulia Berra. Während des Fresh A.I.R.-Stipendiums wollte sie Berlin durch Wanderungen erkunden und daraus ihre Kunstwerke entwickeln. Bevor sie im Oktober 2020 in die deutsche Hauptstadt kam, hatte sie die letzten Monate in einer von der Pandemie besonders schwer getroffenen Region Italiens verbracht. In Berlin stand der nächste Lockdown kurz bevor. Wer nun konstatiert, man müsse in solch einer Situation kreativ sein, ist es vermutlich nie gewesen.

Giulia Berra – „Natural Topography“ (2020/21) | Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG

Berra baute daraufhin in der Stadt, die so bekannt ist für eine Mauer, genau das: eine Mauer, Titel: The Wall. Sie sammelte dafür im Tiergarten herabgefallene Zweige, trug sie in ihr Atelier und konstruierte daraus ein Objekt, das einem Weidenzaun ähnelte. Sieben Wochen lebte sie mit der durchlässigen und fragilen, ca. 7 x 2 Meter großen Grenze. Diagonal durch den Raum gezogen, war Berra während dieser Zeit der Zugang zu den Fenstern versperrt und sie musste die Leere des Raumes dahinter aushalten (etwas, das man in der Kunst auch Horror vacui nennt). Ihr Gefühl des Eingesperrt-Seins wurde so noch gesteigert. Aus einem natürlichen Material hatte sie eine Situation kreiert, die ihr gänzlich unnatürlich erschien, die sie aber dennoch ertragen musste. Künstlerisch eingefangen hat sie dabei ein Gefühl, das wohl viele in der Zeit der Pandemie beschlichen hat, das aber nur wenige teilen konnten. Die Fotografien und Berras zahlreiche Zeichnungen und Skizzen zeugen nicht nur von dem Objekt, sondern auch von dieser Emotion.

In einer weiteren Arbeit geht es ebenfalls um das Bezeugen. Und auch hier ist es das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt und zueinander, das Berra beschäftigt. Die Zeugen lautet der Titel ihrer ortsspezifischen Installation. Sie besteht aus zwölf kegelförmigen Objekten, die die Künstlerin aus naturbelassenem braunen Raffia hergestellt hat. Teilweise überlebensgroß sind die einzelnen Teile zu einer Gruppe arrangiert. Jedes Objekt besteht aus vertikal verlaufenden Bastfasern, die an Ringen mit unterschiedlichen Durchmessern verknotet wurden und nach oben hin spitz zusammenlaufen. Das Widerspenstige des Materials verleiht den Gebilden etwas Lebendiges, Bewegtes, so als würden sie aus dem Boden erwachsen. Inspiriert wurde die Künstlerin zu dieser Arbeit durch den Berliner Goldhut. Der aus der Bronzezeit stammende Kopfschmuck ist vermutlich in kultisch-religiösen Kontexten verwendet worden. Seine Form findet sich aber auch in zahlreichen anderen Kulturen als Kultobjekt, als Dekor oder Gebrauchsgegenstand. Selbst der Weihnachtsbaum ist von der Silhouette her ähnlich. Insofern ist die Form in der Kulturgeschichte der Welt vorhanden und verfügbar. Ebenso wie das für ihre Objekte verwendete Material, die aus Palmblättern hergestellten Fasern, in der Natur zu finden ist. Dadurch ist die Installation nicht nur ortsspezifisch, sondern auch global und entwickelt eine eigene Poesie, die die Betrachtenden berührt und in ihren Bann zieht.

Die Auseinandersetzung mit vor Ort vorhandenen und natürlichen Ressourcen ist auch der Ausgangspunkt für ihre Serie von Zeichnungen mit dem Titel Green Doors. Beeindruckt von der Vegetation Berlins fotografierte Berra eine Reihe spontan wachsender Pflanzen. Pflanzen, die sich selbst aussäen und dadurch quasi plötzlich zwischen Gehwegplatten, auf Freiflächen oder ungenutzten Beeten auftauchen. Berras daraus entwickelte und ausgeschnittene Ölpastellkreidezeichnungen hängte sie an vier Gebäudetüren in Berlin-Schöneberg. Die Straße wurde so zu einer Art Herbarium, einer botanischen Sammlung. Aufmerksam machen wollte Berra die Bewohner*innen damit auf die kleinen unscheinbaren Dinge in ihrer Umgebung, die kurz aufscheinen und dann auch wieder vergehen, ähnlich wie ihre nur flüchtig angepinnten Zeichnungen. Die Türen mit den Zeichnungen zeichnete sie wiederum ab, sie bezeugen die künstlerische Aktion, die selbst, wie die Pflanzen, vergänglich ist. Berra spürt mit ihrer künstlerischen Praxis unscheinbaren, aber bedeutungsvollen Phänomenen nach, die vielfältige Gedanken und Emotionen auslösen können. Genau das ist kreativ.

Text: Kea Wienand



Über Guilia Berra

Giulia Berra (1985), lebt und arbeitet in Cremona, Italien. Sie stellt in Gruppen- und Einzelausstellungen in Italien und im Ausland aus und entwickelt Projekte, die eng mit Architektur und historischen Kontexten verbunden sind. Entsprechend ihres künstlerischen, wissenschaftlichen und humanistischen Hintergrunds konzentriert sie sich auf die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, Tradition und Gegenwart, menschlicher und natürlicher Landschaft. Berra entwickelt neue Sichtweisen, die den Raum aus einer bio-inspirierten und empathischen Perspektive untersuchen.

Weiter Informationen über die Künstlerin: Website I Facebook I Instagram


Fresh A.I.R. #4 Online-Showcase

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