Braille Style - Graffiti für Blinde

Alexis Dworsky

„Braille Style – Graffiti für Blinde“ (fortlaufendes Projekt)

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Der Künstler Alexis Dworsky übersetzt vorhandene Graffitis in Braille, die sogenannte Blindenschrift. Am Anfang seines langjährigen künstlerischen Projektes stand ein Erlebnis: Dworsky war mit einem Blinden durch eine Großstadt spaziert. Als er auf ein großes Wandgraffiti zu sprechen kam, fragte sein Gesprächspartner: „Graffiti, was ist denn das?“. Daraufhin entwickelte Dworsky seine künstlerische Idee, die er bis heute weiterverfolgt: Graffitis auch für Personen mit Sehbeeinträchtigungen lesbar zu machen. Hinter dem Projekt steht die Motivation, Blinden eine intensivere Teilhabe am öffentlichen Raum zu ermöglichen. Die Ausgangslage ist klar: Graffitis prägen das urbane Bild ganz wesentlich. Personen mit Sehbeeinträchtigung ist dieser visuelle Eindruck jedoch nicht zugängig. Für das Ideal einer inklusiven Gesellschaft müssten aber auch die sogenannten ‚Writings‘, ‚Tags‘ und ‚Throw-ups‘ usw. für alle wahrnehmbar sein. Dworsky hat sich diesem Ziel angenommen und übersetzt nun Graffitis in Brailleschrift.

Alexis Dworsky – „Braille Style – Graffiti für Blinde“ und „Urbanit – Sedimentgestein aus Lackschichten“ (2020/21) | Video: YES, AND… productions GmbH & Co. KG

Inklusion bedeutet, dass alle beteiligt sind oder zumindest einen Zugang erhalten, unabhängig von ihren körperlichen Konstitutionen und Eigenschaften. Für Personen mit Sehbehinderung hängt die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilnehmen zu können, ganz wesentlich davon ab, dass es taktile Leitsysteme gibt, wie z.B. Handlaufsysteme, Bodenindikatoren oder akustische Signale an Ampeln, Fahrstühlen etc. Zeichen, die für Blinde lesbar sind, gehen im öffentlichen Raum selten über die bloßen Orientierungshilfen hinaus. Dworsky will auch die subversiven Zeichen der Subkultur für sie übersetzen. Kritiker*innen von Graffitis werden jetzt vermutlich unken, dass es eher ein Vorteil sei, die Schmierereien im öffentlichen Raum nicht sehen zu müssen. Aber diese müßige Debatte interessiert Dworsky nicht. Gleichwohl führt der potentielle Einspruch zu der Frage, was Inklusion und Teilhabe am öffentlichen Raum eigentlich bedeuten?

Auch diejenigen, die Graffitis anbringen, reklamieren letztlich für sich eine Beteiligung an der Gestaltung des urbanen Bildes. Viele schreiben sich in das Stadtbild ein, um der kommerziellen Werbung etwas entgegenzusetzen. Andere stören sich an offiziellen Stadtplanungen. Die meisten bringen ihre Zeichen an, um untereinander zu kommunizieren oder der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen. Dabei geht es häufig darum, für die eigene Angelegenheit mehr Sichtbarkeit zu erreichen. Der städtische Raum erweist sich insofern als ein umstrittener. Wie lässt sich darin jedoch eine Inklusion von Blinden realisieren?

Dworsky hat diese selbstgestellte Aufgabe in den letzten Jahren überwiegend dadurch gelöst, dass er Schriftzeichen von Tags und Throw-ups übersetzte. In Form von Halbkugeln aus Styropor hat er die Buchstaben der Brailleschrift direkt auf die Graffitis geklebt. In der Zeit seines Fresh A.I.R.-Stipendiums hat er zusammen mit einem Sprayer ein Graffiti entwickelt, dessen Motiv ohne geschriebene Schrift funktioniert, dafür aber einen Begriff in Braille integriert. Zu sehen ist (für die, die sehen können) ein Gebilde, das an ein Gestänge oder eine Konstruktion aus Eisenstangen erinnert. Dort, wo die Stangen in Gelenken verbunden scheinen, sind orange Halbkugeln aus Styropor angebracht. Als Braillezeichen ergeben sie übersetzt das Wort ‚Fusion‘, das auf Deutsch ‚Verschmelzung‘ oder ‚Zusammenschluss‘ bedeutet und damit die Beschreibung dessen ist, was Sehende sehen können oder zumindest sollen.

Ist nun aber die Möglichkeit, ein Graffiti lesen und berühren zu können, schon Teilhabe? Oder anders gefragt – was würden diejenigen, die vielleicht nicht sehen, aber dafür zum Beispiel sehr gut hören können oder deren haptischer Sinn sehr gut ausgebildet ist, denen, die diese urbanen Eindrücke nicht haben, mitteilen oder übersetzen? Ausgehend von dieser Frage könnte man vielleicht noch mal anders über die Umsetzung von Inklusion in Stadt und Subkultur diskutieren.

Die Haptik von Graffitis beschäftigt Dworsky auch in einer weiteren Arbeit: Urbanit – Sedimentgestein aus Lackschichten. Was auf den ersten Blick wie geschliffene Edelsteine aussieht, entpuppt sich als Bruchstücke von Wänden, auf denen mehrere Graffitis übereinander angebracht wurden. Aus den viel genutzten ‚Halls of Fame‘ (das sind Flächen, auf die legal gesprayt werden darf) brechen immer wieder Brocken ab, in denen die einzelnen Farbschichten erkennbar sind. Wie ein urbanes Sedimentgestein lagert sich hier sozusagen das subkulturelle Treiben ab. Die vom Künstler aufgesammelten, bearbeiteten und polierten Formen kann man anfassen, sie schmeicheln in der Hand. Man könnte sie sich auch in einem Museum für Stadtgeschichte vorstellen. Über die Graffitikultur sagen sie in ihrer fast schon kitschig schönen Ästhetik vermutlich genauso viel oder wenig aus, wie die Gesteinsbrocken in musealen Sammlungen, die von prähistorischen Zeiten erzählen sollen.

Text: Kea Wienand



Über Alexis Dworsky:

Alexis Dworsky, geboren in Freising, Deutschland, ist Konzeptkünstler. Aus einem Hasenbraten (re)konstruierte er einen Dinosaurier und schrieb hierzu eine Doktorarbeit. In Google Street View fährt er um die Welt und hält darüber Reisevorträge. Er inszenierte einen Trimm-Dich-Pfad inmitten der Stadt und übersetzt Graffiti für Blinde.

Weitere Informationen über den Künstler: Website I Facebook I Instagram


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