William St Leger

Even if your voice trembles – Eine visuelle Erkundung von Scham

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Laut dem Philosophen und Diskurstheoretiker Michel Foucault sind Affekte, und so auch die Scham, Ausdruck von Machtverhältnissen zwischen den einzelnen Subjekten und zwischen Subjekten und Institutionen. In der Moderne kam es zu einer Verpflanzung der Scham in die Körper der Subjekte hinein. So reagieren wir auch heute noch mit Erröten, gesenktem Blick, zitternder Stimme oder mit dem Gefühl, in den Erdboden versinken zu wollen, wenn wir uns schämen. Dass die Scham ein Affekt ist, über den wir kommunizieren sollten, um uns von ihm zu befreien, ist die Grundannahme von William St Legers partizipativer Installation. So stand zu Beginn seiner Arbeit über die Scham die Suche nach Interessierten, die mit ihm über Scham sprechen möchten. St Leger bekam Kontakt zu Menschen über Gruppen im Internet sowie auch zu Menschen, die er im Kiez rund um den Nollendorfplatz kennenlernte.

William St Leger – „Even if your voice trembles“

St Leger, der sich als Street Artist bezeichnet, hat ein tiefes Interesse für die ihn umgebenden Menschen, für soziale Gegebenheiten und für die abgründigen Seiten des Großstadtlebens. Der Norden Schönebergs ist für seine Diversität, seine Straßenprostitution und für den sichtbaren Konsum von Drogen bekannt.

Für seine Arbeit hat St Leger eine Sexarbeiterin, ein Opfer sexuellen Missbrauchs, einen Transmann, eine Person mit Essstörungen, eine Person, die mit HIV lebt, eine Person mit einem sexuellen Fetisch für den Konsum von Fäkalien, einen nicht binären weiblichen Mann, einen Drogenkonsumenten sowie einen Pornodarsteller ausgewählt. Die Personen sind in den an der Wand hängenden Collagen anonymisiert, ebenso die Informationen in ihren Interviews. Auf den digitalen Drucken lassen sich Charakteristiken der Interviewten lediglich erahnen.

St Legers Anliegen ist es, Empathie für Menschen und ihre Geschichten zu zeigen, Erfahrungen zu teilen und so gemeinsam Erinnerungen auszuhalten, die immer wieder Dunkelheit in die Gegenwart bringen. In den Interviews geht es häufig um Schamgefühle aus der Kindheit, um Formen der Bestrafung und um häusliche Gewalt. Machtmissbrauch spielt ebenso eine Rolle bei der Implementierung von Scham wie das Gefühl niemals geliebt worden zu sein. Alle Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert, auf Papier gedruckt und dann durch einen Reißwolf gedreht. Hier beginnt für St Leger der transformierende Teil seiner Arbeit. Aus dem geschredderten Papier und Kleister formte der Künstler gemeinsam mit den Interviewten Steine, die er dann zu einer Mauer zusammensetzte. Jeder Backstein hat eine eigene Farbe, einzelne Buchstaben sind noch zu erkennen und den einzelnen Steinen wurden für die Person typische Gegenstände beigegeben. Beispielsweise rosa Glitzer für den nicht binären Mann, Kondome für die Sexarbeiterin und Medikamente für die Person, die an HIV erkrankt ist.

Verwandlungen der schambesetzten Erinnerungen, die beinahe ein wenig religiös anmuten, fokussierte St Leger bereits in früheren Arbeiten, beispielsweise in einer Sammlung von Geheimnissen. In der Mitte der Installation stehen nun die geformten Steine, die zum einen eine trennende Mauer bilden, jedoch auch alle eingeschlossenen Schamgefühle in sich tragen. Derart, so das Anliegen St Legers, kann die gebaute Mauer eine Befreiung von der Scham in unseren Körpern sein.

Text: Dr. Silke Förschler



Über William St Leger:

Will St Leger ist ein Künstler und Aktivist aus Irland. Wills Arbeit als bildender Künstler hat zum Ziel, soziale und kulturelle Veränderungen durch die partizipative Einbeziehung von besonderen gesellschaftlichen Gruppen in der allgemeinen Öffentlichkeit zu bewirken. Will engagiert sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich in verschiedenen Aktivistengruppen wie Greenpeace, Peace One Day, ACT UP sowie in LGBTQ+-Basisgruppen.

Weitere Informationen über den Künstler: Twitter I Instagram


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