Lotte Reimann

Work-in-Progress

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Die aktuelle Video-Installation von Lotte Reimann ist der dritte Teil einer Trilogie über Identität, Liebe und Begehren. In dem ersten Video „Hinterland“ aus dem Jahre 2020 werden, wie in einem privaten Album Seite für Seite, Fotografien von Stromleitungen und Strommasten gezeigt sowie immer wieder Partien weiblicher Körper, häufig in heller, femininer Kleidung, die mit Kuhmist beschmutzt sind. Akustisch unterlegt sind die Fotos mit einer Unterhaltung Lotte Reimanns und einem männlichen Akteur, der die Verläufe und Bedeutungen der Stromleitungen erläutert sowie seine Fähigkeit zur Ruhe zu kommen, sobald er sich gemeinsam mit Frauen die Kleidung mit Kuhdung beschmiert.

In dem Film „Objects and People“ von 2021 sprechen weibliche Akteurinnen über ihre Liebe zu Objekten und wie es ist, sich in Objekte zu verlieben, beispielsweise in CDs oder in ein Zelt. Amourös erotische Beziehungen zu Dingen, so der Tenor von Reimanns Gesprächspartnerinnen, werden von der Umwelt kaum verstanden, da Liebe und Sexualität in unserer Gesellschaft häufig lediglich unter dem Fortpflanzungsaspekt als wahre Emotionen anerkannt werden. Visuell unterlegt ist das Gespräch mit Fotos von Objekten aus dem Internet, wie sie beispielsweise zu Verkaufs- und Werbezwecken zu finden sind.

Der dritte Film, ein Werk, das sich noch im Prozess der Fertigstellung befindet, umkreist nun die Frage, was Begehren ist. Hierbei geht es sowohl um Asexualität als auch um BDSM. Also um Menschen, die keinen Antrieb zu sexuellen Interaktionen haben und sich gleichzeitiga in Subkulturen bewegen, die Dominanz und Unterwerfung, spielerische Bestrafung sowie lustvolles Schmerzerleben oder Fesseln praktizieren. In Berlin ist diese Subkultur historisch durch das von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft verortet. Zudem ist die BDSM-Szene politisch aktiv und sichtbar.

Lotte Reimann – „Work-in-Progress“

Die Zwei-Kanal Videoinstallation ist zusammengesetzt aus Fotos aus dem Internet, die zum einen erotisch inszenierte Partien von Haut oder Haaren zeigen sowie sinnlich aufgenommenes Obst oder Topfpflanzen sowie für sexualisierte Kleidungsstücke werbende Aufnahmen. Zusätzlich sind Sequenzen von Eadweard Muybridge in den Film geschnitten, beispielsweise eine Chronofotografie, in der eine weibliche Figur zu sehen ist, die ein auf ihrem Knie liegendes Kind auf den nackten Hintern schlägt. Reimann hat diese gefundenen Fotos farblich verändert, um deren Bildcharakter zu betonen und die Motive zu entfremden. Die Gesprächsfetzen zwischen Reimann und den Interviewten drehen sich um Anekdoten aus deren Kindheit, um das Ausleben eigener sexueller Wünsche und Phantasien und um die Verbindung zwischen dem eigenen Körper, Entspannung und sexuellen Praktiken. Hörbar sind zudem Vogelstimmen und plätscherndes Wasser, beides Geräusche, die ebenfalls zur Entspannung anregen.

Die Trilogie Reimanns dokumentiert vielfältiges sexuelles Erleben, das ansonsten in unserer heteronormativ geprägten Kultur wenig Raum findet. Dadurch dass Reimanns Stimme und ihre nahbare Art zu Fragen in der Installation nachvollziehbar sind, wird ihr persönlicher Zugang zu den Akteur*innen auch ein Zugang für die Zuschauenden sich einer womöglich unbekannten Subkultur zu nähern. Der fetischisierende und teilweise reduzierende Inhalt der Fotografien eröffnet durch die Aneinanderreihung und die veränderte Farbgebung Assoziationsräume, die auf die Vielfalt von Identität, Liebe und Begehren aufmerksam machen. Das Hauptanliegen Reimanns ist es mit der Trilogie die Ontologie westlicher Dichotomien von Körper und Geist sowie Natur und Kultur kritisch zu hinterfragen.

Text: Dr. Silke Förschler



Über Lotte Reimann:

Lotte Reimann (*she/none) lebt, forscht und lehrt als queere Künstlerin* derzeit in Berlin. Sie* studierte an der Fachhochschule Bielefeld, der Gerrit Rietveld Academie Amsterdam und war Stipendiatin* der Jan van Eyck Academie in Maastricht. Lotte arbeitet an konzeptuellen fotografischen Erzählungen über Körperlichkeit, die das kolonialhistorische Konzept des Fetischs – der Blick auf die ‚Anderen‘ – unterlaufen. In ihrer* Arbeit verbinden sich gefundene und eigene Bilder, Texte und Töne zu offenen Erzählsträngen, die zwischen soziologischer Forschung und künstlerischer Spekulation oszillieren. Die Beziehungen von Menschen zu Nicht-Menschlichem, wie Wasser, Steinen, Pflanzen, Tieren und anderen Dingen, stehen dabei im Mittelpunkt der Untersuchungen.

Lotte Reimanns Arbeiten wurden in internationalen Institutionen wie der MoMA-Bibliothek New York, dem Stedelijk Museum Amsterdam, De Appel, dem Fotomuseum Winterthur, den Rencontres d’Arles, dem Museum Arnhem, Chelsea UAL, dem Museum Marta Herford, FOAM Amsterdam und dem Fotomuseum Rotterdam ausgestellt bzw. von diesen erworben. Sie* wurde 2022 mit dem Krupp-Stipendium ‚Zeitgenössische deutsche Fotografie‘ und 2016 mit dem niederländischen ‚C.o.C.A. Foundation Art Prize“ ausgezeichnet.

Weitere Informationen über die Künstlerin: Website I Instagram


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