LiHenn

Gib dem Viertel dein Gesicht

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In der Ausstellung sind fünf Portraits zu sehen, die aus Plastiktüten und Verpackungsmaterial gestaltet sind. Die Portraits zeigen fünf Bewohner*innen der Siedlung Haselhorst. Sie sind beidseitig von Material- und Farbproben gerahmt, den 100 x 70 cm großen Bildern ist jeweils eine Aussage der Portraitierten beigefügt. Mit „Ja, ganz oben seh’ ich nur den Himmel und Bäume (…) das ist fantastisch, ja“ wird Sabine zitiert, die in der Siedlung geboren wurde und aufgewachsen ist. Seit 2013 lebt sie wieder am Ort ihrer Kindheit.

Die von LiHenn „plastic2art“ bezeichnete Herstellungstechnik schafft nicht nur eine spezifische Flächigkeit sondern thematisiert auch den Umgang mit Müll. Alle Plastiktüten sind gefunden oder geschenkt. Da Plastiktüten mittlerweile EU-weit verboten sind, wird der Vorrat der Künstlerin zu Ende gehen und ihr künstlerisches Ausgangsmaterial wie aus einer anderen Zeit stammen. Ästhetisch knüpft die Herstellungsweise an Collagetechniken und an Enkaustik an.

LiHenn – „Gib dem Viertel dein Gesicht“
LiHenn – „Experienca de Vida_Monika Schulz“

Ihr partizipativer Ansatz ermöglichte es LiHenn tief in die Geschichte der Siedlung Haselhorst einzutauchen. Als ersten Eindruck schilderte die Künstlerin eine gewisse Gleichförmigkeit der Häuser, 10 000 Menschen leben in Haselhorst. Gleichzeitig weist sich die Siedlung auch durch sehr viel Grün aus. Individualität findet sich auf den ersten Blick besonders in den unterschiedlich gestalteten Balkonen.

Mit Hilfe einer Sozialarbeiterin, über Vereine, über die Kirche und Dank einer Seniorenresidenz gelang es LiHenn, einige Bewohner*innen zu interviewen. Leitendes Interesse hierbei war es, sowohl die Gesichter des Viertels sichtbar als auch die Stimmen einiger Bewohner*innen hörbar zu machen. Derart sollten Menschen gewürdigt werden, die sonst nicht sichtbar sind und in keiner Geschichtsschreibung auftauchen. In den Gesprächen interessierte sich LiHenn sowohl für die Geschichten der Haselhorster*innen als auch für ihre Verbindungen zu dem Viertel. Die meisten Befragten berichteten von einer hohen Lebensqualität und von einer Kontinuität der Bewohner*innen, die teilweise über Generationen stabil ist, sodass sie mit dem Viertel auch viele Kindheitserinnerungen verbinden. Viele Bewohner*innen arbeiten bei Siemens oder sind durch ihre dort arbeitenden Eltern in Haselhorst groß geworden, leben dort noch immer oder sind wieder dorthin zurückgekehrt. Die Geschichte der Bewohner*innen ist damit recht untypisch für das von Gentrifizierung geprägte Berlin.

Teil der Arbeit ist auch ein Video das ein Interview mit der am längsten in der Siedlung lebenden Bewohnerin zeigt. Ihren Mietvertrag hat sie von ihren Eltern übernommen, die 1933 in die Siedlung gezogen sind. Baubeginn der Siedlung war in der Weimarer Republik, Bauende in der Zeit des Nationalsozialismus. Trotz einer Generalsanierung finden sich immer noch Wandbilder aus dem Nationalsozialismus, wie beispielsweise ein Terracotta-Relief mit Mutter und Kind oder ein Lebensbaum, der spielende Kinder, einen pflügenden Bauern mit Pferd und einen Säer zeigt. Die Kunstwerke aus dem NS sind nicht näher erläutert und werden nicht kontextualisiert.

Ziel der Arbeit von LiHenn ist es, wie auch der Titel ihres Werks nahe legt, die Porträts am Ort ihrer Entstehung auszustellen. Mit einem QR-Code sollen die Lebensgeschichten der Haselhorster*innen angehört werden können. Der Künstlerin und den Bewohner*innen ist zu wünschen, dass dieser Plan bald umgesetzt wird.

Text: Dr. Silke Förschler



Über LiHenn:

LiHenn (geb. 1952) studierte Grafik-Design an der Hochschule für Gestaltung in Bremen und absolvierte ein Universitätsstudium in Kunst und Germanistik in Oldenburg. Es folgten Unterrichtstätigkeiten in Deutschland, Spanien und Belgien. Sie eröffnete ihr Studio 2017 in Valencia / Spanien und arbeitet überwiegend mit Abfallmaterial aus Plastikfolie. Sie druckt, webt, collagiert oder schweißt und füllt das Material. Themen, wie Mensch, Nachbar, Gestalt und Individuum stehen im Fokus ihrer Arbeiten.

Weitere Informationen über die Künstlerin: Instagram


Fresh A.I.R. #5 Online-Showcase

Der Online-Showcase bietet die Möglichkeit, Einblick in die unterschiedlichen, in den verwendeten Medien und entworfenen Ästhetiken extrem vielfältigen Projekte der Künstler*innen des vierten Fresh A.I.R.-Jahrgangs zu nehmen.

Zu sehen sind Video- und Bildmaterialien zu den einzelnen Projekten, denen jeweils ein erläuternder Text beigefügt ist, der die ästhetische Erfahrung zu vermitteln sucht.

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