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Kiez meets Museum 2019

„Welche Gefühle passen zu diesem Bild?“, fragt Kunstvermittlerin Julia Devies die Kinder. Der Ersteindruck der Zweitklässler der Helmuth-James-von-Moltke Grundschule von Anselm Kiefers mehr als sechs Meter breitem Monumentalbild „Lilith am Roten Meer” (1990) im Hamburger Bahnhof ist zwiespältig: „Traurig“, „Arme Menschen tragen diese Kleider, alle sind ganz schmutzig“, „Da ist Trauer, als wäre jemand tot“. Erst später erfahren die Kinder mehr über die sagenhafte Geschichte von Lilith, der ersten Frau Adams, die aus dem Paradies floh und so die Strafe Gottes auf sich zog, der jeden Tag 100 ihrer Kinder tötete. Amie (7) ist sehr betroffen: „Die armen Kinder, ich habe viel Mitleid. Ich hatte mir bei diesem Bild gleich gedacht, dass jemand gestorben ist.“ Jetzt malt sie ganz konzentriert das Kunstwerk nach. Ihrem Klassenkameraden Patrizio (8) fällt das schwer: „Ich kann das alles nicht so gut. Gestern wollte ich einen Staubsauger malen (gemeint ist Jeff Koons´ Staubsauger in einem beleuchteten Plexiglaskasten) und dann habe ich einen Elefanten draus gemacht. Aber ich finde es trotzdem toll hier!“

Die kleinen TeilnehmerInnen beim Nachmalen der vorab gesehenen Kunstwerke im Hamburger Bahnhof.

Erzieherin Hülya Ari begleitet die zweite Klasse während ihrer Workshop-Woche. Ihr Fazit: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Kinder so interessiert und kreativ sind. 30 Prozent waren vorher noch nie in einem Museum. Wir haben schon gedacht: ‚Hoffentlich klappt´s, dass sich alle benehmen´, denn die Klasse ist mit 27 Schülern sehr groß.“ Kunstvermittlerin Julia Devies lobt die Klasse: „Die Schüler haben einen guten Umgang untereinander, geben sich gegenseitig Feedback. Es gibt keinen Außenseiter.“ Auch der erste gemeinsame Projekttag in der Schule brachte einige Aha-Erlebnisse: „Wir haben Skulpturen im Schulhof entdeckt, die hatte bislang niemand richtig wahrgenommen – weder die Kinder noch die Erwachsenen. Kunst schärft eben den Blick auf die Welt.“

Über das Projekt

Schüler und junge Erwachsene, meist aus strukturschwachen Berliner Quartieren, erhalten im Förderprojekt „Kiez meets Museum“einen Einblick in die Arbeits- und Wirkungsweise eines Kunstmuseums. Dabei beschäftigen sie sich mit einzelnen Exponaten. Im Jahr 2019 gehörten dazu vier Workshop-Formate: „Deine eigene Geschichte“ ließ Grundschüler ihre ganz persönlichen Geschichten zu den ausgestellten Kunstwerken entwickeln, die anschließend zu einem Ausstellungsbegleitheft für Kinder gestaltet wurden. Oberschüler produzierten im Workshop „Stell die Verbindung her“ einen Audioguide von Jugendlichen für Jugendliche für den Hamburger Bahnhof. Im Rahmen des Workshops „Von Nagel zu Nagel – von Ort zu Ort“ entwickelten junge Menschen, die sich beruflich orientieren, ein neues Selbstbild und produzierten ein inszeniertes Foto, das von ihrer Individualität erzählt. Auch Kinder mit unterschiedlichen Formen der körperlichen und geistigen Einschränkung nahmen mit einem eigenen Format teil. So sammelten, fotografierten und zeichneten Schüler der Gustav-Meyer-Schule „Unentdeckte Ecken“ im Hamburger Bahnhof und in ihrer Lebensumgebung. Aus ihren Arbeiten entstand ein Kartenspiel mit Anregungen zur künstlerischen Erforschung von öffentlichen Räumen und Kunstwerken, welches sich Schulklassen kostenlos ausleihen können. Zum Projektabschluss durfte auch im Jahr 2019 wie jedes Jahr gefeiert werden: Am 18. Juni stellten die Schüler ihr Kartenspiel ihren Familien und der Öffentlichkeit vor. Auch die Charlottenburger Grundschüler, die ihre persönlichen Interpretationen zu der jeweiligen Ausstellung im Workshop „Deine eigene Geschichte“ entwickelten, präsentierten an diesem Tag ihr Ergebnis. Aus den ganz persönlichen Skizzen, Textfragmenten und O-Tönen der Zweitklässler entstand ein spannendes Ausstellungsbegleitheft, das für junge Museumsbesucher sowie ihre Eltern kostenfrei an der Kasse des Museums erhältlich ist.