Im Gespräch mit Siegfried Zoels

Inklusion vorleben und praktizieren

Im August 2019 treffen wir Siegfried Zoels (78), den Geschäftsführer des Vereins Fördern durch Spielmittel e.V. Seit 1991 wird in der Immanuelkirchstraße in Prenzlauer Berg Spielzeug erfunden, hergestellt und ausprobiert. In Workshops mit Gestaltern aus aller Welt entwickelt der Verein Spielzeuge für Groß und Klein, für Menschen mit und ohne Behinderung. Die Ludothek – ein Ort, in dem man Spielzeug ausleihen kann – hat seit 2003 bis zu 9.000 Besucherinnen und Besucher im Jahr. Hier wird Inklusion vorgelebt und praktiziert. Menschen mit Behinderung finden zum Beispiel in der hauseigenen Schneiderei eine Ausbildung und viele anschließend einen Job im ersten Arbeitsmarkt. 2020 stehen Veränderungen an: Der Verein Fördern durch Spielmittel e.V. wird gemeinsam mit der Pfefferberg Stadtkultur gGmbH das Kompetenzzentrum für Spiel und Bildung gGmbH gründen. Im Interview wirft Siegfried Zoels einen Blick zurück – und einen nach vorn.

Wie haben Sie als Kind selbst gespielt?

Siegfried Zoels: Ich bin Jahrgang 1941 und in den Trümmern Berlins großgeworden, genauer gesagt am Alex. 1947 wurde ich eingeschult. Gespielt habe ich draußen mit meiner Clique vom Hof, damals war ja viel weniger Verkehr auf den Straßen. Es gab viele Probleme im Alltag und die Kinder liefen einfach ganz selbstverständlich mit. Heute ist das Bild der Kindheit ganz anders: Kinder müssen das Idealbild der eigenen Eltern widerspiegeln, es gibt ganz andere Ansprüche an die Kinder.

Hatten Sie selbst Spielzeug?

Siegfried Zoels: Wenig. Wir hatten vor allen Dingen große Augen und haben früh Bescheidenheit gelernt. Genau darum geht es uns auch heute in der Ludothek, um das „Habenwollen“. Kein Kind muss jedes Spielzeug haben. In den Kinderzimmern liegt es oft nur da und bleibt unbenutzt. Ein kurzes Strohfeuer. Der Hintergrund ist einfach: Die Spielzeugindustrie fragt eher danach, was die Wiederverkäufer brauchen. Und die schauen, was ihnen die Eltern und Verwandten gern abkaufen. Die Ludothek ist ein völlig anderes Modell: Hier kann man Spielzeug ausleihen, man spielt zu Hause damit und bringt es wieder zurück.

„Sharing is caring“: Im Grunde leben Sie in der Ludothek einen aktuellen Trend. Teilen bringt Menschen mit anderen Menschen in Kontakt und spart dazu noch bares Geld. Sind Sie Trendsetter fürs „Toy Sharing“?

Siegfried Zoels: So kann man es auch ausdrücken. Im Grunde haben wir das Car-Sharing und einiges mehr vorweggenommen. Spielzeug zu teilen hat eine Tradition, wir haben es nicht erfunden. Die Ludotheken-Bewegung kommt aus Frankreich, der Schweiz, aus Italien und Großbritannien. Dort kann man sich in den Dörfern schon lange Spielzeug ausleihen. In Frankreich gibt es rund 800 Ludotheken – eine Mischung aus Spielort und Kita. Uns gab die Ludothek seit ihrer Gründung 2004 zusätzlich die Möglichkeit, die ganzen Spielzeug-Neuentwicklungen aus unseren internationalen Kreativitätsworkshops einzusetzen.

Wie erklären Sie sich den großen Erfolg der Ludothek in Prenzlauer Berg?

Siegfried Zoels: Das hat uns am Anfang selbst überrascht. Eigentlich dachten wir, die Leute würden sich das Spielzeug ausleihen und dann wieder gehen – aber sie blieben einfach. Es geht ihnen in erster Linie um Kontakte, um ein ganz selbstverständliches Zusammenkommen. Und das geschieht am leichtesten über die Kinder! In der Kita ist alles organisiert, es gibt behördliche Strukturen, feste Abläufe und wenig Freiraum. Selbst auf dem Spielplatz komme ich oft nicht so einfach ins Gespräch. Eltern müssen ständig auf die eigenen Kinder aufpassen und bei den Kontakten gibt es keine Kontinuität. Die Ludothek dagegen ist ein völlig offenes Spielangebot mit festen Öffnungszeiten. Man geht regelmäßiger hin, trifft Nachbarn aus dem Kiez und bekommt neue Anstöße. Denn ein gesellschaftliches Problem ist die Vereinzelung. Im gemeinsamen Spielen und Streiten um das Spielzeug lernen die Kinder Kompromisse einzugehen: Jeder darf mal bestimmen.

Gibt es darüber hinaus noch Impulse für die Nachbarschaft?

Siegfried Zoels: Ja, das Spielen ist der kleinste gemeinsame Nenner für den Kiez und wirkt gleichzeitig darüber hinaus. Denn das Konzept der Ludothek öffnet die Augen für Nachhaltigkeit, Umwelt, Klima. Was kaufe ich? Wie gehe ich mit Abfällen um? Wie ist meine Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen und was kann ich von ihnen lernen? Die Berliner Leben fördert als Stiftung das Zusammenleben in den Quartieren. Genau das setzen wir mit unserer Ludothek um: Wir stabilisieren die sozialen und die Wohnzusammenhänge.

Die internationalen Kreativitätsworkshops, die Ihr Verein veranstaltet, haben eine lange Geschichte. Wie waren die Anfänge?

Siegfried Zoels: In der DDR war ich einer der wenigen, der sich speziell mit dem Thema Design und Rehabilitation von behinderten Menschen befasste. Ich habe immer gefragt: Was kann das Kind, wo liegen seine Fähigkeiten? Es geht darum, dass man Menschen mit Behinderungen viel mehr zutrauen kann. Im Rahmen der UN-Weltdekade für kulturelle Entwicklung bekam das Thema Design und Rehabilitation Ende der 1980er Jahre einen anderen Stellenwert. Und so geschah das Wunder: Im September 1990 führten wir nach vier Jahren Vorbereitung im Bauhaus Dessau den ersten und letzten UNESCO-Workshop der DDR durch – mit dem Ziel, neue Spielzeuge zu entwickeln. Danach haben wir den Verein gegründet. Für den letzten, inzwischen 18. Kreativitätsworkshop im Januar 2019 in Berlin gab es 90 Bewerbungen aus aller Welt – von Designern, Künstlern, Therapeuten, Pädagogen und Spielzeugmachern. Die 23 Teilnehmer kamen dieses Mal aus 13 Ländern. Während des Workshops hospitieren sie in Einrichtungen von Menschen mit Behinderungen und bekommen zwei Wochen lang einen Blick für deren Fähigkeiten. Auf dieser Grundlage erarbeiten die Teilnehmer neue Spielzeuge und stellen die Prototypen selbst her. Bis heute führen wir die Workshops unter dem Dach der UNESCO durch, sie fanden zum Beispiel auch in Indien, China und Mexiko statt. Insgesamt haben in den vergangenen drei Jahrzehnten 400 Teilnehmer aus 61 Ländern fast 300 neue Spielzeuge für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen entwickelt. Für einige Spielzeuge haben wir die Bauanleitungen veröffentlicht, um Eltern und Erziehern Anregungen zu geben.

Wie sehen die Pläne für Ihre persönliche Zukunft aus?

Siegfried Zoels: Alle Mitarbeiter und Projekte haben in der neuen gemeinnützigen GmbH eine Perspektive, ich selbst werde mich ab 2020 etwas zurückziehen können. Ich bleibe Geschäftsführer des Vereins Fördern durch Spielmittel e.V. Solange Körper und Geist mitspielen, gibt es viel zu tun: Die Themen liegen auf der Straße. Ich habe mindestens noch drei Bücher vor mir, die ich schreiben will. Und eine halbfertige Dissertation liegt auch noch auf dem Schreibtisch. Darüber hinaus wird mich der Aufbau der neuen Fachschule für Erzieher beschäftigen. Auch hier legen wir großen Wert auf Kreativität, Spiel und die Inklusion von Kindern mit Behinderungen.

Stiftung Berliner Leben: Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihr Engagement!