Denis Cherim

YOUR CONFUSION, MY ILLUSION

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Denis Cherim stellt sich mit seinen digitalen Aufnahmen von Berliner Straßen und Plätzen in eine lange Tradition. Mit dem Entstehen der modernen Großstädte im 19. Jahrhundert entstand auch das neue Bildgebungsverfahren der Fotografie. Technik, Medium und Sujet sind hier von Beginn an miteinander eng verbunden. Bilder von einsamen Menschen in einer anonymen Masse, Portraits inmitten des pulsierenden Großstadtlebens und Großstädter*innen in öffentlichen Verkehrsmitteln prägen seitdem unser Bild von Großstädten. Aufnahmetechniken und Bildinhalte sind vielfältig. Gemeinsam ist allen Großstadtfotografien jedoch, dass sie immer auch Zeugen eines sozial-dokumentarischen Blicks sind. Zu denken ist hier an Eugène Atgets Aufnahmen im Paris um 1900, die neben reich geschmückten Schaufenstern auch Asphaltierer bei ihrer Arbeit auf der Straße zeigen; an Paul Strand, der in den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts die Hektik von Menschen und Verkehr in New Yorker Straßen aufnahm sowie an Walker Evans, der mit versteckter Kamera in den 30er Jahren Menschen in der Subway portraitierte und dabei müde und leere Alltagsgesichter einfing.

Auf den ersten Blick wirken Cherims großformatige Farbfotografien gestochen scharf bis ins Detail und fast schon hyperrealistisch. Sie zeigen Straßen und Orte in Berlin, zu erkennen sind die Museumsinsel, das Spreeufer, der Alexanderplatz sowie das Brandenburger Tor. Jedoch, das wird schnell klar, geht es vorrangig um die sich an diesen Orten bewegenden Passant*innen, also um Straßenfotografie und weniger um ein touristisches Einfangen der Orte mit der Kamera im Sinne eines Postkartenmotivs. Zwar lädt das Motiv sich schnell bewegender Passant*innen dazu ein, den Blick ebenso hastig zum nächsten Foto schweifen zu lassen, dann jedoch irritiert etwas im Bild. Und sobald man diese Irritation wahrgenommen hat, verweilt der Blick, um alle optischen Koinzidenzen auszumachen. Es wird deutlich, dass zwischen den Passant*innen teilweise die Ebenen ihrer Körper miteinander verflochten sind. So scheint beispielsweise auf der Fotografie am Spreeufer eine junge Passantin auf den Schultern eines Passanten zu laufen und eine weibliche Rückenfigur über den Oberkörper einer anderen Spaziergängerin.

Denis Cherim „YOUR CONFUSION, MY ILLUSION“

Wichtig bei Cherims Vorgehen ist es, dass er der fotografierten Situation keine Elemente hinzufügt, sondern einzelne Elemente einer Aufnahme digital ausschneidet und sie mit Hilfe von Photoshop für sein Spiel mit den Ebenen neu arrangiert. Auf der Fotografie des Brandenburger Tors, das gesäumt ist von Polizeiautos, geht Cherim noch einen Schritt weiter: Hier verändert er auch die Architektur des Berliner Wahrzeichens. So ist die Quadriga gedreht und trägt den Schriftzug „Morgen ist die Frage“, der von der Fassade des Berghain Club inspiriert ist. Das angrenzende Haus Liebermann, eine Rekonstruktion des vormaligen Haus Sommer von J.P. Kleihues aus dem Jahre 1996, wird zu einem gewöhnlichen Berliner Altbau.

Wirken die Fotografien von Cherim mit ihren Überschneidungen teilweise surreal, bestechen sie gleichzeitig durch die Dokumentation von Situationen, die permanent in der Großstadt zu erfahren sind und die wir eigentlich kaum wahrnehmen. Auch in der Irritation verquerer Raumkonzepte zeigt sich die Spur eines gerade passierten Ereignisses. Dass dieser „entscheidende Moment“ wie ihn Henri Cartier-Bresson bezeichnete, digital erschaffen werden kann, zeigen die Fotografien.

Text: Dr. Silke Förschler



Über Denis Cherim:

Denis Cherim ist ein in Rumänien geborener autodidaktischer Fotograf, der in Madrid aufgewachsen ist. Er studierte Grafikdruck, Illustration und Prägekunst an der Schule für Gravur und Grafikdesign der Königlichen Münzstätte Spaniens. Von Natur aus neugierig fand er in der Fotografie ein perfektes Werkzeug und einen Verbündeten, um die beeindruckende Geschichte unserer nicht immer beeindruckenden Realität festzuhalten. Im Laufe der Jahre hat er seinen ganz eigenen fotografischen Stil entwickelt, der zu mehreren fotografischen Serien und verschiedenen künstlerischen Aufenthalten führte. Seine Fotografie ist ein Abbild seiner Philosophie und seines Verständnisses der Welt.

Weitere Informationen über den Künstler: Website I Facebook I Instagram


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